In einem häufig zitierten Wahlspruch der Initiative Marcus und Dahl e.V. heißt es: „Künstlerinnen und Künstler können einen Stadtteil beleben, begeistern, provozieren, zu Diskussionen anregen und Bewusstsein schaffen“.
Was am Montagabend, 18.11.19 im Stavenhagenhaus zu hören und zu sehen war, bestätigte voll und ganz diese Erkenntnis. Einzig die Provokation fehlte – und wurde natürlich auch nicht vermisst.

Jens Hüttmann, stellvertretender Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, die neben der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung und dem Bezirksamt Nord Hauptförderer des Konzertes war, sprach in seinem Grußwort von der Notwendigkeit, gerade in der heutigen Zeit, die in Europa stark von der Diskussion geprägt sei, Menschen aus anderen Ländern nicht ihrem Schicksal zu überlassen, sondern Exil zu bieten, die Erinnerungskultur zu stärken. Dafür sei historische Bildung besonders wichtig und die Erinnerung an die Exilierten und Ermordeten von großer Bedeutung.

Anlässlich des 100. Geburtstages des niederländischen Komponisten und Musikers Dick Kattenburg, der mit nur 24 Jahren 1944 in Auschwitz von den Nazis ermordet wurde, kamen 7 seiner Kompositionen zur Aufführung, die teilweise erst vor wenigen Jahren von seiner Nichte, Joyce Bergmann-van Hessen, auf dem Dachboden ihres Elternhauses gefunden worden waren. Und diese Musik und ihre Interpreten konnten begeistern: Ob es die „Deux Valses à la Ravel“ waren, die „Flirtations“ oder die „Sonate for fluit en piano, Op. 5“, das Groß Borsteler Klavierduo Friederike Haufe und Volker Ahmels und die Flötistin Eleonore Pameijer erweckten die Musik Kattenburgs zum Leben, eine Musik mit vielen jazzigen Elementen und Anspielungen, modern, beschwingt und gut anzuhören. Nur etwa 30 Kompositionen von Kattenburg sind überliefert, aber bis auf eine wurden sie zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt. Bevor Dick Kattenburgs Karriere beginnen konnte, wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft während einer Razzia in einem Kino verhaftet und kurze Zeit darauf ermordet. Mit großem Interesse und Anteilnahme verfolgten die Zuhörer und Zuhörerinnen das Gespräch mit Joyce Bergmann-van Hessen und der Flötistin Eleonore Pameijer und erfuhren, wie eine damalige Bekannte von Dick Kattenburg, die den Holocaust überlebt hatte, reagierte, als sie vor etwa 10 Jahren die Sonate für Flöte und Piano zum ersten Mal hörte und ihr gewahr wurde, dass diese Sonate als musikalischer Liebesbrief gemeint war. Eleonore Pameijer hat in Holland die „Leo Smit Stiftung“ gegründet. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, verfemte und verbotene Musik wieder hörbar zu machen, und den verfolgten, ermordeten oder ins Exil gegangenen Musikern und Komponisten ihren Platz in der Geschichte zurückzugeben. Damit verfolgt die Stiftung die gleichen Ziele wie das Zentrum für Verfemte Musik an der Hochschule für Musik und Theater Rostock, das von Volker Ahmels geleitet wird.

In wunderbarer Ergänzung zur Musik Kattenburgs kamen drei Werke von Ingolf Dahl zur Aufführung, darunter zum ersten Mal in Hamburg die „Serenade for Four Flutes“ aus dem Jahr 1960. Neben Eleonore Pameijer spielten die Flötistinnen Wiebke Bohnsack, Ulrike Beißenhirtz und Lucia Höhmann mit viel Freude am Spiel, Präzision und Hingabe und mit einem kleinen Augenzwinkern, denn diese Serenade entstand in einer Phase, als Ingolf Dahl eigentlich mit der Komposition einer Kammersinfonie beschäftigt war, die ihm aber nicht so leicht auf das Notenblatt kam.
Die beiden anderen Werke Dahls waren Stücke für vierhändiges Piano, die von Volker Ahmels und Friederike Haufe interpretiert wurden. Hohe Perfektion und große Empathie für den Komponisten und die Musik, die sie interpretieren, kennzeichnen ihre Spielweise. Auch hier gab es eine Hamburger Erstaufführung, die mit einer interessanten Anekdote eingeleitet wurde: Das „Rondo für vier Hände“ hat Dahl 1938, damals noch in Zürich, unter dem Namen Ingolf Marcus begonnen und erst 1939 im amerikanischen Exil unter dem Namen Ingolf Dahl zu Ende geschrieben. In Amerika nahm er den Namen seiner schwedischen Mutter an und verweigerte fortan die Verwendung der deutschen Sprache.

Zum Schluss dieses an besonderen Momenten überaus reichen Konzertes gab es einen weiteren Höhepunkt: Das Klavierstück für vier Hände „Tap Dance – Stepptanz“ aus dem Jahr 1936 von Dick Kattenburg wurde von dem Musiker und Tänzer Tonio Geugelin live auf der kleinen improvisierten Bühne vor dem Piano getanzt. Ein fröhliches und furios getanztes Finale! Der Applaus für alle Künstler, Künstlerinnen und Mitwirkenden war lang anhaltend und verdient.

Wolf Lüders